Preisverleihungen

2025

„Die KI trifft sich nicht mit Informanten“, sagte Frauke Hunfeld. Gemeinsam mit Alexander Kauschanski und dem Fotografen Max Avdeev erhielt sie den Hansel-Mieth-Preis für eine Reportage, wie sie kein Algorithmus schreiben kann – über Deutschlands größtes Flüchtlingslager und die Geschäfte damit. Die Festrede hielt Alexander Smoltczyk.

Am vergangenen Mittwoch, 25. Juni 2025, hat die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel ihren jährlichen Hansel-Mieth-Preis verliehen – diesmal zum 27. Mal. Die Oberbürgermeisterin von Fellbach, Gabriele Zull, begrüßte die Besucherinnen und Besucher im Grüßen Ratssaal im Rathaus Fellbach..

„Können sich Journalistinnen und Journalisten gegen künstliche Intelligenz in ihrem Beruf wehren?“ Das sei „genauso vergeblich und verzweifelt wie einst der Kampf gegen Schweißroboter in der Automobilindustrie“, meinte Alexander Smoltczyk, Spiegel-Reporter und langjähriges Jury-Mitglied des Hansel-Mieth-Preises, in seiner Festrede. Wenn Maschinen viele Aufgaben einfach schneller und besser erledigten als der Mensch – etwa Börsennachrichten oder Spielberichte über Fußballspiele –, bleibe eine zentrale Frage: „Was können wir Reporter, das die KI nie können wird?“

Zum Beispiel, so Smoltczyk: „Wenn ich der KI sage: Schreibe eine große Reportage über die Flüchtlingsunterkunft in Tegel, kritisch, im Stile der Autorin Frauke Hunfeld, dann würde durchaus ein Text herauskommen. Aber dieser Text würde nie einen Preis gewinnen.“

Zusammen mit den Bildern des Fotografen Max Avdeev wurde eine Recherche von Frauke Hunfeld und Alexander Kauschanski mit dem diesjährigen Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet. Ihre Reportage „Das Lager“, erschienen im Spiegel, beschreibt die Zustände in Deutschlands größter Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel, wo tausende Menschen unter schwierigsten Bedingungen leben – während etliche Firmen mit diesen Zuständen gute Geschäfte machen.

Während die Menschen draußen bei Temperaturen über 30 Grad Celsius auf den Terrassen der Weinstuben und Cafés saßen, waren rund 140 Besucherinnen und Besucher zur Preisverleihung ins Fellbacher Rathaus gekommen. Oberbürgermeisterin Gabriele Zull erinnerte an Hansel Mieth, die aus Fellbach stammende Namensgeberin des Preises, deren „Reportagen zu Arbeitern und Minderheiten in den USA einst Maßstäbe setzten“. Die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel hatte den mit 6000 Euro dotierten Preis in diesem Jahr zum 27. Mal ausgeschrieben. Es gab 134 Bewerbungen.

Engagierte Reportagen im Geiste Hansel Mieths – wie die diesjährige Siegergeschichte – würden bleiben, trotz KI, sagte Smoltczyk, aus drei Gründen: „Der Reporter steht mit seinem Namen dafür ein, dass ein Text wahrhaftig ist. Das ist ein Gütesiegel.“ Zweitens könne KI sich nur auf bereits veröffentlichte, also bekannte Umstände beziehen, und schaffe keine neuen Erkenntnisse: „Als Reporter setze ich mich dagegen dem Unbekannten aus. Ich fahre los mit einer Arbeitshypothese. Ich rede mit Leuten und merke: Die Hypothese stimmt nicht. Ich muss umdenken, erfahre Dinge, die ich überhaupt nicht vorhergesehen habe.“ Schließlich könnten „Reporter und Reporterinnen Regeln gekonnt brechen“. Generationen von Journalistinnen und Journalisten folgten den Schreibregeln des „Sprachpapstes“ Wolf Schneider; KI vermöge diese leicht zu berücksichtigen. „Aber natürlich kann man entgegen diesen Regeln zehn Adjektive hintereinander bringen, wenn es dem Text dient.“ Die „besondere Musikalität einer guten Reportage“ werde KI nie erspüren.

„Wer den Text liest und die Bilder sieht, erfährt, wie wir mit denen umgehen, die bei uns Schutz suchen oder eine Zukunft. Was wir öffentlich von ihnen verlangen – und was wir hinter den Zäunen des ehemaligen Flughafens Tegel zu bieten bereit sind“, erklärte Gesa Gottschalk (Geo) als Laudatorin die Entscheidung der Jury. Auf dem Programm im Flüchtlingslager stehen Jonglierkurse und Latin Dance – aber keine Kinderbetreuung für unter Fünfjährige, keine Schulplätze, keine Privatsphäre. „Wir lernen auch, wie viel das Land Berlin ausgibt, damit es dann trotzdem nicht funktioniert. Und wie viel sich daran verdienen lässt.“ Die höchstrangige Politikerin im Text ist eine Berliner Senatorin. „Die Bundespolitik kommt nicht vor, die AfD nicht, Friedrich Merz nicht. Und gerade deshalb funktioniert diese Reportage. Sie gewährt uns die Einblicke, die wir brauchen, um die tagesaktuellen Nachrichten einordnen zu können.“

Die recherchierten Missstände – wie die schleppende Betreuung der Geflüchteten bei gleichzeitig überhöhten Kosten für den Betrieb der Unterkunft – seien „einerseits Überforderung geschuldet und andererseits mangelnder Prioritätensetzung“, sagte Preisträgerin Frauke Hunfeld. Und ja, künstliche Intelligenz könne echten Journalismus nie ersetzen: „Die KI trifft sich nicht in Bahnhofrestaurants mit Informanten.“

Durch die Veranstaltung führte Moderator Jochen Stöckle (SWR). Die Siegerreportage las die Schauspielerin und Sprecherin Barbara Stoll.

Mit der Gewinner-Reportage wurden weitere Arbeiten ausgezeichnet, betonte Laudatorin Gesa Gottschalk – „ein Stück über eine Kinderintensivstation, über Bettenmangel und schwere Entscheidungen. Die Ich-Reportage einer Mutter über einen winzigen Gendefekt und seine Folgen für ihren Sohn, für sie und ihre Familie. Ein Besuch in Buchenwald, der der Frage nachgeht, wie Gedenken geht und gehen wird, wenn die letzten Zeitzeugen sterben – und der Ruf nach einem Schlussstrich weiter in die gesellschaftliche Mitte rückt.“

2024

Im Schatten eines Krieges mitten in Europa hat die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel am vergangenen Mittwoch ihren jährlichen Hansel-Mieth-Preis verliehen – diesmal zum 26. Mal.

Unter dem Beifall von rund 100 Gästen nahm Christoph Reuter die Auszeichnung für die Reportage „Die letzten Bestatter von Bachmut“ entgegen; Johanna-Maria Fritz, die Fotografin der Geschichte, konnte nicht dabei sein: sie weilt gerade in der Ukraine. Die im Spiegel erschienene Reportage erzählt die Geschichte von sechs Männern und zwei Frauen, Angestellten des städtischen Bestattungsunternehmens, die in der ukrainischen Stadt Bachmut ausharren. In der Frontstadt, Anfang 2023 aufgerieben zwischen russischen Angriffs- und ukrainischen Verteidigungsgefechten, gibt es weder Wasser noch Gas noch Strom. Doch „gestorben wird ja weiterhin“, wie einer der Bestatter lapidar sagt. Und so versuchen die acht, die Toten der sterbenden Stadt zu bergen und zu bestatten.

Der Preis ist mit 6000 Euro dotiert. Zeitenspiegel vergibt die Auszeichnung für engagierte Reportagen, bei denen Bild und Text gleichermaßen bewertet werden.

Von der Jury hieß es zur Verleihung an Fritz und Reuter: „Der Tod in der Ukraine ist kein Nischenthema. Die Toten zu identifizieren und die Personalpapiere zu besorgen, um sie in Würde zu beerdigen, ist eine Herkulesaufgabe … Eine Geschichte, die im Kleinen das Beharrungsvermögen der Menschen von Bachmut erzählt, den alltäglichen Wahnsinn der Belagerung.“

Die Festrede hielt Anette Dowideit, stellvertretende Chefredakteurin der Rechercheredaktion Correctiv. Dieses hatte Anfang Januar über ein Geheimtreffen aus AfD-Anhängern, Finanzinvestoren und Neonazis berichtet, bei dem über die sogenannte „Remigration“ gesprochen wurde. „Als wir an diesem Abend mit der Geschichte fertig waren und gegen Mitternacht das Büro verließen, sagte ich zu meinem Kollegen Justus: Das war soo viel Arbeit, ich bin wirklich erleichtert, dass wir damit fertig sind. Niemals hatten wir uns vorstellen können, was am nächsten Morgen und in den Tagen, Wochen und Monaten danach geschah.“

Dowideit unterstrich, sie erzähle die Genese dieser Recherche nicht, um anzugeben, „sondern um die Macht zu unterstreichen, die traditionelle Medien noch entfalten können. Wie wir alle in den Medien es immer noch schaffen können, eine starke Kraft für die Demokratie zu sein. WENN wir die richtigen Geschichten finden, die wir erzählen können. Geschichten, denen unser Publikum zuhören wird.“ Sie betone das still in diesem Satz, weil es heute alles andere als sicher sei, „dass uns, den Medien, überhaupt noch zugehört wird.“ Noch nie sei der Wettbewerb um Aufmerksamkeit so groß wie heute: Die sozialen Medien hätten eine neue Realität geschaffen, in der sich jeder sein eigenes Publikum aufbauen könne – und in der es für den Journalismus immer schwieriger werde, als Autorität anerkannt zu werden, der das Publikum vertrauen kann.

Dowideit nannte drei Empfehlungen für Medien, um in diesen Zeiten zu bestehen. Der erste: „Wir müssen das Publikum dazu bringen, uns zuzuhören und uns zu vertrauen, indem wir IHNEN zuhören. Ich meine: Ihnen WIRKLICH zuhören.“ Der zweite: „Lassen Sie nicht zu, dass Populisten den Diskurs anführen, indem Sie sich auf die Diskussionspunkte einlassen, die SIE versuchen, auf die öffentliche Tagesordnung zu setzen.“ Und drittens: „Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf die Künstliche Intelligenz.“

Die Laudation hielt Cornelia Fuchs, Jury-Mitglied und stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift stern. Über die Reportage sagte sie, diese erzähle nicht die Geschichte vom Krieg, sondern vom Leben. „Nicht die Geschichte von Gewalt, sondern vom Alltag, von Pflichtbewusstsein, von Notwendigkeiten. Sie erzählt nicht die Geschichte von Krieg, sondern von aufrechten Menschen. Sie lässt diese Menschen so real wirken, dass der Krieg nicht mehr das Hauptthema dieser Reportage ist. Sondern deren Menschlichkeit. Eben diese Menschen, die Tote weiter bestatten wollen, wie es immer schon getan wurde und wie es immer weiter getan werden sollte. Und so wird der Tod zur größten Bestätigung des Lebens in der sterbenden Stadt Bachmut.“

Fotos: (c) Peter D. Hartung

2023

Unter großer Anteilnahme wurde am 20. September 2023 in Fellbach der Hansel-Mieth-Preis vergeben. Mit der Auszeichnung würdigte die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen zum 25. Mal herausragende engagierte Reportagen in Wort und Bild, „das ist wichtiger denn je“, wie die Fellbacher Oberbürgermeisterin Gabriele Zull bei ihrer Begrüßung der rund 200 Gäste im Großen Saal des Rathauses sagte.

Mit dem Preis erinnert Zeitenspiegel Reportagen ans 1998 verstorbene Ehrenmitglied Johanna „Hansel“ Mieth, die sich als Fotoreporterin für das amerikanische Magazin Life sozialen Themen widmete. 2023 ging die Auszeichnung an das Team Rudi Novotny (Text) und Anne Morgenstern (Fotos). Ihre im Zeit Magazin veröffentlichte Reportage „Ich will eine normale Frau sein. Einfach so“ ist das Ergebnis einer achtjährigen Begleitung: Mit zwölf Jahren beschließt Ella, dass sie nicht mehr Eliah heißen will. Zwischen ihr und ihrem Ziel, eine Frau zu werden, liegen Jahre voller Euphorie und Enttäuschung, Hoffnung, Verzweiflung und Liebe.

Für die Jury fasste Gesa Gottschalk die Preisentscheidung zusammen. „Geht das? Nach einem Jahr Krieg in Europa“, sagte die Redakteurin des Magazins Geo mit Blick auf den Krieg in der Ukraine – im Schatten eines sehr dominierenden Thema die Auszeichnung für eine Coming-of-Age-Geschichte? „Natürlich geht das“, sagte Gottschalk. „Denn das Private an Ellas Geschichte ist nur scheinbar privat.“ Die Reporterin verwies auf die zahlreichen Gewalttaten gegen Transgender. „‘Es geht nicht um eine Schönheitsoperation‘“ zitierte Gottschalk Ella, „‘es geht um mein Leben‘“.

v.l.n.r.: Roman Pawlowski und Joachim Rienhardt (Nominierte), Anne Morgenstern und Rudi Novotny (Preisträger), Gesa Gottschalk (Laudatio), Eva Hosemann (Lesung), Frank Plasberg (Festrede)

In seiner Festrede zum 25-jährigen Jubiläum des Preises ging Frank Plasberg auf die Lage des Journalismus in Deutschland ein. „Der Hansel-Mieth-Preis ist der Hidden Champion unter den Journalistenpreisen“, sagte der Journalist und Fernsehmoderator vorab. Und beschrieb die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel Reportagen mit den Worten: „Reich sind diese Leute nicht geworden, aber offenbar glücklich.“

Dann thematisierte Plasberg allgemeine Entwicklungen in Deutschland, er kritisierte einen von ihm ausgemachten Haltungsjournalismus, den „Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen, zum Maßstab journalistischen Handelns zu machen“. Als Beispiel führte der langjährige Moderator der Sendung „Hart aber fair“ den Fall Gil Ofarim an, in dem der Musiker Vorwürfe von Antisemitismus gegen Hotel-Mitarbeiter erhoben hatte – aber nun selbst vor Gericht wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt ist. „Haltung zeigen, das ist für mich ein Platzhalter geworden, um die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus aufzuweichen“, sagte Plasberg. Für den Journalismus „sollte es doch reichen, statt Haltung Anstand zu zeigen“.

Plasberg appellierte, mehr auf das eigene Bauchgefühl zu hören, und plädierte für Lebenserfahrung. „Wenn bezahlter Journalismus eine Zukunft haben will, müssen wir für unsere gesteigerte Kreditwürdigkeit sorgen.“

Der Hansel-Mieth-Preis ist mit 6000 Euro dotiert. Während der Veranstaltung las die Regisseurin und Intendantin Eva Hosemann rund ein Viertel der Siegerreportage vor. Als sie endete, war es für einen langen Moment still, bevor Applaus aufbrandete.

Bei all diesen ernsten Themen gab es eine musikalische Begleitung durch den Abend, und zwar durch den beschwingenden Chor „rahmenlos & frei“ der Vesperkirche Stuttgart – mit Songs wie „Morning has broken“ und „Country Roads“, bei denen das Publikum am Ende begeistert mitsang.

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