Schlagwort: 2000

  • Blödes Kind

    Blödes Kind

    Text: Antje Potthoff, Fotos: Vincent Kohlbecher, Das Magazin

    Das Mädchen hat nicht halten können, was sich die Mutter von ihrer Tochter versprach. Ist 23 Jahre alt und hilfloser als ein kleines Kind. Zu hundert Prozent geistig behindert, Epileptikerin. Eine klein gebliebene Frau, die zum Dickwerden neigt. Mit schmalen Kinderhänden und -füßen. Das helle, kurz geschnittene Haar strähnig, das Gesicht rund und flach, darin ein kleiner Mund, der beim Sprechen, Lachen, Staunen, bei jedem Öffnen Speichelfäden über den Zähnen freilegt. Die Augen starren, mal wie um Verständnis bemüht, dann wieder leer.

  • Wo ist hier die Mauer?

    Wo ist hier die Mauer?

    Text: Sabine Rückert, Fotos: Gregor von Glinski, Die Zeit

    Er hat sich keine Banane gekauft. Er hat auch kein Begrüßungsgeld bekommen. Er sitzt nicht jubelnd auf der Mauer. Und niemand reißt ihn in die Arme und überschüttet ihn mit Sekt, als er zum ersten Mal in den Westen kommt. Er nimmt einfach die S-Bahn von der Friedrichstraße zum Bahnhof Zoo. Hätte er den gleichen Weg bei seinem letzten Berlin-Besuch genommen, hätte man ihn dafür erschossen. So aber schwebt er in der Hochbahn unbehelligt über den aufgewühlten Potsdamer Platz. Erkennt von hier den Reichstag zwischen den gigantischen Türmen und Klötzen nicht. Als er drüben ankommt, dort, wo früher der Westen war, muss man ihm das sagen.

  • Die Schwestern von der Alb

    Die Schwestern von der Alb

    Text: Frauke Hunfeld, Fotos: Andree Kaiser, stern

    Es ist ein Mittwoch in diesem Juni, an dem Gretel ihren letzten Gang antritt. Als sie für immer den Hof der Schwestern Walz verlässt, weint Klara und Marie betet.

  • Wo Sisyphus gekündigt hätte – Die Gauckbehörde

    Wo Sisyphus gekündigt hätte – Die Gauckbehörde

    Text: Wolfgang Michal, Fotos: Wilfried Bauer, Geo

    Teddy ist immer ein ganz Lieber gewesen. Die Kinder konnten ihn am Schwanz ziehen, er knurrte nicht mal. Aber 1985 fing er plötzlich an zu beißen. Mitten auf der Straße fiel er wildfremde Männer an und biss ihnen grundlos ins Bein. Hannelore Köhler war ratlos, genau wie ihr Westfreund, ein Zollbeamter, den die Stasi gerade ins Visier genommen hatte.

  • Krieg in den Mangroven

    Krieg in den Mangroven

    Text: Peter Korneffel, Fotos: Alex Webb, mare

    Sie raucht. Wenn der Pazifik sein Wasser zur Ebbe zurückzieht, raucht sie die ganz Starken, die Full Speed und die kolumbianischen Pielroja. Schwarzer Tabak, filterlos, von fernen Manufakturen in dünnes weißes Papier gerollt, oder krumme Zigarren, billigstes Kraut aus dem kleinen Laden vom Steg in ihrem Dorf.

  • Alligator People

    Alligator People

    Text: Ania Faas, Fotos: André Lützen, mare

    Alligatoren sind in Louisiana keine bedrohte Tierart mehr, werden aber immer noch als solche behandelt. Nachdem sie in den siebziger Jahren beinahe ausgestorben waren, entstanden auf Initiative des Wild Life Department Farmen wie die von Steele McAndrew. Hier werden aus Eiern wilder Alligatoren Tiere großgezogen, die man im Alter von zwei bis drei Jahren wieder in den Sümpfen aussetzt. Eine festgelegte Anzahl der Farmreptilien darf geschlachtet, Haut und Fleisch verkauft werden. Derzeit liegt der Preis für ein Foot Rohmaterial bei 30 Dollar.

  • Stadtbahn Bombay

    Stadtbahn Bombay

    Text: Carmen Butta, Fotos: Roman Bezjak, Geo

    Station Borivali, 8.36 Uhr, Gleis drei. Die Immobilienmaklerin Vijaya Shirodkar verstummt. Ihre Hände greifen zum seidenen Sari und raffen ihn hoch. Ihre Wangenmuskel spannen sich. Sie starrt dem einlaufenden Zug entgegen. Nur nicht zu dicht an den Bahnsteig heran! Die ersten springen im Laufschritt ab, springen gleich hierher, rempeln alle an, und dahinter stampft die Horde, sie wischt dir die Schminke vom Gesicht und reißt dir die Tasche von der Schulter, tritt gegen Füße und Beine, stößt dich um. 

  • Aids – Die mörderische Braut der Zärtlichkeit

    Aids – Die mörderische Braut der Zärtlichkeit

    Text: Cornelia Fuchs, Fotos: Tiane Doan na Champassak, stern

    Rambha will Urlaub machen vom Elend. Eine Woche nur, aber die braucht sie jedes Jahr. Eine Auszeit für die Seele, einmal ein paar Tage den Schimpfworten und der Akkordarbeit entfliehen. Rambha ist eine Hijra, ein indischer Eunuch, der sich als Frau fühlt.

  • Blutrache

    Blutrache

    Text: Scott Anderson, Fotos: Paolo Pellegrin, Geo

    Vorsichtig geschätzt, sahen mindestens 200 Zeugen, wie Shtiefën Lamthi am frühen Nachmittag des 3. August 1998 ermordet wurde. Es geschah in Shkodër, der nördlichsten Stadt Albaniens. Der 43-jährige Bauer ging gerade die Zyhdi-Lahi-Straße entlang, die den zentral gelegenen Marktplatz Rus durchquert. In den Händen trug er Plastiktüten voller Einkäufe. Vor einem Tabakkiosk an der Nordwestecke des Platzes stellte sich ihm ein stämmiger, etwa 35-jähriger Mann in den Weg, hob eine Maschinenpistole vom Typ Kalaschnikow, feuerte 21-mal und spazierte davon.

  • Die Schandmauer

    Die Schandmauer

    Text: Peter Hummel, Fotos: Nikos Economopoulos, Weltbild

    Sie ist 62 Meter lang, 1,80 Meter hoch, aus Beton gegossen: In der tschechischen Stadt Ústí nad Labem haben die Behörden eine Mauer gebaut. Sie steht zwischen 150 Roma und elf Einheimischen. Eine Lärmschutzwand soll sie sein. In Wahrheit aber ist sie ein Symbol: dafür, dass Menschen nicht miteinander leben können, nicht miteinander sprechen wollen, sich nicht akzeptieren. Natürlich, so sagen die Verantwortlichen in der nordböhmischen Stadt, sei dies keine richtige Mauer. Nicht so wie die, die Deutschland bis vor zehn Jahren spaltete. Jeder kann sie umgehen, sogar Türen hat sie. Trotzdem durchschneidet sie mehr als nur ein Wohnviertel. Eine Reportage über die Gefühle der Menschen rechts und links der Mauer.

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